Dr. May erklärt die Welt

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Der Anzug eines nordamerikanischen Westmannes

»Aber bitte tausendmal um Verzeihung, werter Sennor! Ich wiederhole, daß ich ganz und gar nicht die Absicht hegte, mich über Sie lustig zu machen. Sie kommen mir so außerordentlich fremdartig vor, daß es mir für den Augenblick unmöglich war, an mich zu halten. Nehmen Sie das ja nicht übel, und haben Sie lieber die Güte, mir zu erklären, in welcher Weise diese lederne Kleidung für unsre Reise geeignet sein soll!«

«Das ist ganz genau der Anzug eines nordamerikanischen Westmannes.«

»So mag ein solcher Lederanzug wohl für Nordamerika passen, aber für den Süden doch unmöglich.«

»Sie scheinen anzunehmen, daß es im Norden nur kalt und im Süden nur warm ist. Am Aequator ist die größte Hitze; je weiter man sich von demselben nach Norden oder Süden entfernt, desto mehr nimmt die Wärme ab. Wir befinden uns gegenwärtig fünfunddreißig Grad südlich des Aequators. Ebenso viele Grade nördlich desselben haben wir im allgemeinen dasselbe Klima zu suchen. Ich habe mich aber noch weit südlicher befunden und dabei doch die lederne Kleidung getragen.«

»Das ist mir zu gelehrt.«

»So will ich populärer sein. Sie haben im allgemeinen hier warme Tage und kalte Nächte. Das Leder aber ist ein schlechterer Wärmeleiter als das Zeug, aus welchem Ihre Kleidung besteht. Infolgedessen werde ich am Tage weniger schwitzen und des Nachts weniger frieren als Sie. Während Sie sich des Nachts in mehrere Ponchos hüllen, schlafe ich in dieser Kleidung im Freien, ohne daß die Kühle mich aus dem Schlafe weckt.«

»Dann wäre sie freilich praktisch!«

»Sie haben hier oft starke Regengüsse. Durch dieses indianisch zubereitete Leder dringt der Regen nicht, während er bei Ihnen sofort bis auf die Haut geht. Mir können die Stachelgewächse des Urwaldes nichts anhaben, während Ihnen die Kleidung durch die Dornen in Fetzen gerissen wird. Und sehen Sie, wie eng meine Kleidung am Halse schließt! Kein Moskito vermag es, bis auf meine Haut zu dringen. Wie aber steht es bei Ihnen?«

»O, Sennor,« seufzte er, »wenn ich mich vier oder fünf Tage bei der Arbeit befinde, so ist mein ganzer Körper ein einziger Moskitostich!«

»So wird es Ihnen sehr leicht sein, einzusehen, daß Sie über etwas gelacht haben, um was Sie mich beneiden sollten.«

»Ja, aber Sie können sich doch gar nicht bewegen! Sie sehen aus wie ein Taucher in seiner Rüstung. Diese schrecklichen Stiefel!«

Er betastete die genannte Fußbekleidung, deren Aufschlageschäfte mir allerdings sogar die Oberschenkel bedeckten.

»Sie sind nicht schrecklich, sondern außerordentlich praktisch. Durch diese Stiefel dringt kein Giftzahn einer Schlange und auch kein Wassertropfen. Ich reite bis zur Sattelhöhe im Flusse, ohne naß zu werden.«

»Und diese Hose mit den eigentümlichen Fransen!«

»Das sind indianische Leggins, aus der Haut einer Elenkuh gefertigt, fast unzerreißbar zu nennen.«

»Und dieses Kleidungsstück?«

»Ist ein indianisches Jagdhemde aus dem Felle eines Büffelkalbes. Es ist so dünn und leicht wie ein Leinwandhemde, reißt nicht und kann gewaschen werden. Und das Oberkleid ist ein indianischer Jagdrock aus Wapitifell, dessen Zubereitung über ein Jahr erfordert hat. So dünn das Leder ist, es dringt kein Pfeil hindurch, der nicht ganz aus der Nähe abgeschossen ist.«

Am Rio de la Plata (1894)
F 12, S. 111–113
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