Dr. May erklärt die Welt

Eines vielgereisten Mannes
Lebensweisheiten & Ratschläge
für alle Lebenslagen

Wie man zwei Lanzen ausweicht und einen Doppelwurf tut

Meine Gegner traten sehr zuversichtlich auf; hatte doch sogar Winnetou behauptet, daß noch niemand eine Lanze in meiner Hand gesehen habe.

»Wünschest du, daß ich ihnen eine Lehre gebe?« fragte ich ihn leise.

»Ja; sie verdienen es. Du kennst meinen Doppelwurf; eine Lanze als Finte und sofort hinterher die nächste als Treffer.«

Ich nahm die fünf Waffen vom Boden auf, wo sie lagen; sie waren leicht und dünn, aber von zähem Holze, nur durch Absicht zerbrechlich. Ich konnte alle fünf zugleich umspannen und nahm sie als Bündel in beide Hände, sie zunächst wie ungefähr eine Balancierstange haltend. Bei dieser Haltung ist das Parieren, das Seitwärtsdirigieren der heransausenden Wurfgeschosse für den Anfänger freilich sehr schwer und sogar gefährlich, für den Geübten dafür aber dreifach leicht.

[…]

Es war nicht klug von mir, sie darauf aufmerksam zu machen, aber ich fürchtete mich nicht, denn ich hatte, ebenso wie Winnetou, auch darin Uebung, zwei Lanzen, die zu gleicher Zeit geworfen werden, zu entgehen. Die eine pariert man, und der andern weicht man durch einen Schritt zur Seite aus. Freilich dürfen sie nicht von Kennern geworfen werden, sonst ist man unbedingt verloren. Zielen beide nach demselben Punkte, dem Kopfe, oder der Brust, und wirft dabei der eine auch nur einen Moment später als der andere, so wird die erste wahrscheinlich pariert, die zweite trifft das Ziel aber gewiß.

Das wußten die beiden Yumas glücklicherweise nicht. Sie handelten zwar nach meiner Anweisung, sagten aber einander nicht, wohin zu zielen sei; ihre Lanzen nahmen nicht denselben Flug – ein Schlag mit den meinigen, ein schneller Seitentritt, ich wurde nicht getroffen.

[…]

Winnetou sah mich an und nickte bedeutungsvoll zur Seite. Damit fragte er, ob der erste Wurf, sowie wir zu thun pflegten, ein Versuch sein solle. Ich nickte wieder. Links hinter den Gegnern stand ein Baum, ich weiß nicht mehr, welcher Art, der hatte unter seinem ersten Aste einen Schwamm; den wollte ich treffen. Ich setzte den linken Fuß vor, wog und wägte den Speer in der Rechten, indem ich dieselbe auf- und niedergehen ließ, hob sie hoch empor, nahm den Schwamm scharf ins Auge, gab dem Speer durch eine Daumenbewegung die nötige Selbstdrehung und schleuderte ihn – er kam mitten in den Schwamm zu stecken.

[…]

Er hatte mir das Ziel gegeben und ich wußte, daß ich es treffen würde – mittels des Doppelwurfes. Der erste Speer muß nämlich die Aufmerksamkeit dessen, den man treffen will, auf sich lenken; der zweite folgt augenblicklich nach und geht, wenn man Uebung hat, niemals fehl.

Satan und Ischariot II (1897)
F 21, S. 176–181
Mastodon